Der 2. Platz in unserem Essaywettbewerb 2021 zeigt die global-politischen Positionen vom Einsatz von Daten auf, um mögliche Zukunftszenarien abzuleiten. Der Autor gelangt zu einem einfachen Fazit: Nur wenn wir uns bewusst sind, welchen Wert Daten haben, können wir sie sozial nachhaltig einsetzen. Die Jury hebt besonders die sozio-politischen Implikationen des Artikels hervor, die eine klare Handlungsempfehlung an Verantwortliche in Politik und Wirtschaft gleichermaßen ausspricht.
Dystopien und der Zweck von Daten
Der berühmte im Jahre 1948 erschienene Roman von George Orwell mit dem Titel 1984 zeichnet ein dunkles Bild einer dystopischen Gesellschaft der Zukunft. Die Partei weiß alles über die Bürger. Mithilfe von Technologien wie den Teleschirmen, versteckten Mikrofonen und Hubschraubern kann die Partei jegliche Opposition im Keim ersticken und die Bürger durch persönliche Informationen erpressen. Der Staat hat die totale Kontrolle über die Bevölkerung.
Bekannter Weise diente der sowjetische Sozialismus als Orwells Motivation, eine solche Warnung für die Zukunft zu verfassen. Angesichts von Organen wie der Tscheka oder von stalinistischen Säuberungsaktionen hätte der sowjetische Herrschaftsapparat die im Roman beschriebenen Technologien zur Kontrolle der Bevölkerung zweifelsohne auf die eine oder andere Art und Weise verwirklicht, wenn die entsprechenden Technologien genügend ausgereift gewesen wären. Doch was die Sowjetunion verpasste, scheint die Volksrepublik China bzw. die Kommunistische Partei Chinas (KPC) derzeit mit Konsequenz und zu Lasten des Individuums schon realisiert zu haben: Ein Social Credit-System, das mit totaler Überwachung und Gesichtserkennung einhergeht, die Verfolgung, Inhaftierung und Hinrichtung von Dissidenten sowie die totale Überwachung durch die neusten Technologien wecken unschöne Erinnerungen an Gedankenverbrechen und big brother is watching you.
Es liegt auf der Hand, dass zur Verwirklichung eines solchen Herrschaftsapparates die Erhebung, Analyse und Interpretation von Daten notwendig ist: Seien es die Daten potenzieller Dissidenten oder Terroristen, die Daten über ausländische Militäroperationen oder Daten über die eigene Demographie und Wirtschaft. Zum Funktionieren eines Staatswesens oder einer Öffentlichkeit ist es immer notwendig, in einem bestimmten Ausmaß Daten zu sammeln.
Während in der VR China die Datenerhebung primär politischen Zwecken dient, sind es im Westen vor allem wirtschaftliche Interessen, welche eine systematische und im großen Maßstab angelegte Datenerhebung durch Unternehmen motivieren. Durch die neuen Technologien, dem Aufkommen von Big Data und der zunehmenden Bedeutung von Werbung und Marketing und der Markkonzentration von IT-Giganten wie Google, Apple oder Amazon, wird die demokratische Öffentlichkeit vor neue Herausforderungen gestellt. Datenschutz und Anonymisierung bekommen mehr und mehr Stellenwert und werden von der Politik gefordert.
In jedem Fall aber ist es wichtig festzuhalten, dass Daten bzw. deren Erhebung, Analyse und Interpretation immer nur ein Mittel zum Erreichen eines Zwecks sind: während dies in China politische Zwecke zur Sicherung von Macht und Kontrolle sind, stellen Daten im Westen ein Mittel zum Erreichen von Zwecken wie Effizienz, Profit und wissenschaftliche Erkenntnis dar. Das soll nicht heißen, dass es keine chinesischen Wissenschaftler oder Unternehmer gibt, die auf Daten angewiesen sind – für die KPC ist aber wohl der politische Nutzen der wichtigste.
Nun ist es aber so, dass der Westen, bzw. die liberale Demokratie, bezüglich seiner Zwecksetzung immer ein wenig schizophren gewesen ist: Einerseits stellt er mit den Idealen des Liberalismus die individuelle Freiheit und Privatsphäre in den Mittelpunkt und fordert und fördert letztendlich private Initiative und wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt. Andererseits muss der demokratische Staat stets versuchen, einen Ausgleich zwischen seinem liberalen Ideal der Freiheit und dem nationalen Sicherheitsinteresse zu finden. In anderen Worten: Die Demokratie muss genauso wie in China Macht und Sicherheit des Gemeinwohles aufrechterhalten. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die liberale Demokratie den Spagat zwischen Sicherheit und liberalen Grundrechten schaffen muss.
Die Corona-Krise führt uns diesen schizophrenen Charakter der westlichen Demokratie eindrücklich vor Augen. Einerseits sehen die liberalen Prinzipien keine Einschränkungen von Grundrechten vor, andererseits erfordern die Interessen des Gemeinwohls, die Gesundheit der Bevölkerung, diese Einschränkungen, weshalb die Politik zwischen Öffnung und Lockdown hin und her schwankt. Ermöglicht wird eine solche Politik nicht zuletzt durch Daten: Die Erhebung von Infektions-und Todeszahlen, die Erarbeitung der Inzidenzwerte, die Aufstockung der Gesundheitsämter und die Ausweitung ihrer Kompetenzen sowie die Datenübermittlung über Test- und Impfzentren sowie der Corona-Warn-App sind nur einige Beispiele dafür, wie wichtig Daten für eine Maßnahmenpolitik in einer Pandemie sind. Würden wir bei alldem unsere liberalen Prinzipien ignorieren, so stünde auch dem Westen die Adoption des chinesischen Modells offen, bei dem das nationale Interesse nicht mehr durch liberale Freiheitsrechte ausgestochen werden kann.
Die Corona-Krise hilft uns deshalb beispielhaft bei der Formulierung einer philosophischen Frage für die Zukunft. Die rasche Entwicklung neuer Technologien im digitalen Bereich und den neuen Dimensionen, welche die Datenerhebung, -analyse, -interpretation und schließlich auch deren Verbreitung annehmen, stellt den Westen vor die Frage, welchem Modell er im Bezug mit dem Umgang von Daten in Zukunft einschlagen möchte. Bleibt der primäre Zweck von Daten eine Effizienzsteigerung für Wirtschaft und Wissenschaft oder wird sich auch der Westen immer näher dem chinesischen Modell annähern? In anderen Worten: Liegt die Zukunft der Daten in Peking oder im Silicon Valley?
Die Zukunft der Daten
Auf welche Art und Weise kann eine solche Frage beantwortet werden? Müssen wir die geopolitische Machtkonstellation berücksichtigen, um beurteilen zu können, ob das 21. Jahrhundert ein chinesisches oder ein westliches Jahrhundert wird? Mit einer gewissen Vorsicht kann man behaupten, dass das gegenwärtige multipolare internationale System eine chinesische Zukunft impliziert. Mit der stetigen Expansion der chinesischen Einflusssphäre, von potenziellen Annexionen im Südchinesischen Meer, über neo-koloniale Investitionspolitik in Afrika und Infrastrukturprojekten wie der Neuen Seidenstraße, bis hin zum stetigen Wirtschaftswachstum und militärischer Stärke der Volksrepublik, scheint der Schluss nicht fern, dass mit der Expansion der chinesischen Einflusssphäre langfristig eine Expansion seiner innenpolitischen Prinzipen einhergehen wird. Eindrücklich fungierte die chinesische Reaktion auf die Corona-Krise auch als Vorbild für alle westliche Staaten. Solche Lern- und spill-over-Effekte liegen also nicht fern. Auch die USA, die mittlerweile die Gefährdung ihres Hegemonie-Status wahrnehmen müssen, sehen sich spätestens seit dem 11. September 2001 genötigt, vor allem im Bereich sensibler Daten die nationalen Sicherheitsinteressen vor die individuelle Privatsphäre zu stellen, wie nicht zuletzt Maßnahmen wie der Patriot Act oder die NSA-Enthüllungen durch Edward Snowden zeigen. Der Westen scheint sich im Bezug auf Daten schon heute an China ein Vorbild zu nehmen.
Doch die Zukunft unseres Umgangs mit Daten hängt nicht notwendigerweise von internationaler Politik ab. Denkbar wäre auch das westliche Modell, das nicht vom internationalen Druck und Sicherheit bzw. Macht geprägt ist, sondern vielmehr von wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Interessen, kontrolliert durch liberal-demokratische Prozesse der Willensbildung. Ein Paradebeispiel für einen solchen Umgang stellt die Europäische Union dar: Einerseits wurde sie als Wirtschaftsunion gegründet und steht seit ihrer Geburt in den Diensten des Binnenmarktes und des Wirtschaftswachstums. Big Data steht damit ganz im Sinne der Gründungsidee der EU, dem ökonomischen Nutzen und dem freien Unternehmertum. Andererseits versucht sie die individuelle Privatsphäre, die durch große Konzerne aber auch staatliche Institutionen in Zeiten von Big Data zunehmend gefährdet werden, durch Maßnahmen wie der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) von 2018 zu schützen.
Doch was zunächst wie eine klare Abgrenzung zwischen einem liberalen und einem autoritären Umgang mit Daten erscheint, wobei die Sympathien bei den meisten Lesern wohl im liberalen Modell liegen, entpuppt sich letztlich doch als falsche Dichotomie – zumindest hinsichtlich der Konsequenzen für das Individuum. Denn der Westen ist zunehmend alternativlos; seine Optionen bestehen entweder darin, die totalitären Elemente der Chinesen zu übernehmen oder so weiterzumachen wie bisher. Weil der Westen aber gerade durch solche Totalitarismen und ideologische Herrschaftsapparaten abgeschreckt wird und aus den fehlgeschlagenen Experimenten der Vergangenheit seine Schlüsse zieht, wird er sich dazu entschließen, so weitermachen wie zuvor und das bedeutet, der Maxime des unendlichen Wirtschaftswachstums Folge zu leisten.
Somit erhalten Daten einen unvorstellbaren Wert für wirtschaftlich agierende Akteure, vor allem Unternehmen der digitalen Branche – umso mehr Daten, und umso effizienter der Umgang damit, umso mehr Informationen über Konkurrenz und Konsumenten, umso lukrativer das Produktdesign und die Werbung und schließlich umso höher der Absatz. Auf je mehr Daten ein Algorithmus zurückgreifen kann, desto besser wird das Produkt oder die Dienstleistung an die individuellen Vorlieben eines potenziellen Konsumenten angepasst.
Aus Sicht der – vor allem digitalen – Produzenten und Dienstleister sind Daten tatsächlich das Öl des 21. Jahrhunderts – vor allem dann, wenn dank der Tendenz zur Monopolisierung, vor allem im IT-Bereich, die Datensammlungen über Individuen auf wenige Big Player wie Facebook, Google oder Amazon konzentriert sind. Wer auf mehr Daten zurückgreifen kann, der kann sich leicht einen Wettbewerbsvorteil gegenüber seinen Konkurrenten verschaffen und schließlich die Marktmacht durch eine effizientere Antizipation und Kenntnis über Eigenschaften von Konsumenten an sich reißen. Nie war das Zitat von Francis Bacon, Wissen ist Macht, treffender als in der Ära von Big Data. Es ist erschreckend, wieviel die oben genannten IT-Giganten tatsächlich heutzutage über unser persönliches Leben bereits wissen und dies zu Profitzwecken nutzen. Dies ist jedem bewusst, der sich regelmäßig im Internet und in sozialen Netzwerken bewegt und dabei genötigt wird, Werbeanzeigen über ein Produkt im Feed von Facebook oder Instagram zu erhalten, über das er sich noch Stunden zuvor mit einem Freund unterhalten hat.
Aus Sicht des Konsumenten ist die Wertsteigerung von Daten erstens mit dem totalen Ausgeliefertsein gegenüber den mächtigsten IT-Konzernen verbunden. Zweitens, führt der effizientere und immer präzisere, den Bedürfnissen und Wünschen der Konsumenten perfekt angepasste Absatz zu einem gesteigerten, ja in Zukunft vermutlich schon dekadenten, Konsum und materiellen Wohlstand, durch den dem Konsumenten jeder Wunsch von der Lippe gelesen wird, bevor dieser sich überhaupt darüber bewusst war, diesen Wunsch gehegt zu haben. Aus diesem Grund täuscht Zweiteres effektiv über ersteren Hinweg: Im Tausch gegen ein erweitertes Angebot von Filmen und Serien auf Netflix und eine personengerechte Werbung ist der typische Konsument achselzuckend dazu bereit, seine Privatsphäre aufzugeben oder zumindest die Preisgabe dieser billigend in Kauf zu nehmen und darüber zynisch zu resignieren, während er mit erhobenem Zeigefinger auf das chinesische Modell schimpft.
Weitermachen wie zuvor?
Stellen wir uns das „Weitermachen wie zuvor“ im Bezug auf Big Data und der Maxime der unendlichen Nutzenmaximierung in der radikalsten Konsequenz vor: Unser digitaler Fußabdruck wird dermaßen ausgeschlachtet, dass die Produktvorschläge so präzise werden, dass jede Werbeanzeige einen Kauf zur Folge hat. Krankenversicherungen und Kreditinstitute könnten durch Fitness-Armbänder, Gesundheits- oder Vermögensverwaltungs-Apps (eine Vorstufe zum Mikrochip als ultimativen Datensammler und Zahlungsmittel) gnadenlos die Daten eines Benutzers „gebrauchen“, um einen kranken oder mittellosen Kunden abzulehnen. In seiner radikalsten Form steht am Ende einer solchen Entwicklung unweigerlich ein Totalitarismus oder Robert Nozicks Empfindungsmaschine: Jeder individuelle Wunsch wird sofort und in größter Effizienz erfüllt, indem die Menschen an eine Empfindungsmaschine angeschlossen sind, die auf Grundlage der Vorlieben des Konsumenten dessen perfekte Realität simulieren – dies ist die logische Konsequenz und der feuchte Traum einer Gesellschaft nach dem Maxime der unendlichen Nutzenmaximierung, die wiederum auf unendliche, immer größere, immer schnellere Datenmengen beruht. Von Nozicks Wunschmaschine bis zur dystopischen Matrix-Trilogie, in dem die Menschen letztlich von der selbst-geschaffenen Künstlichen Intelligenz unterjocht werden, besteht nun nur noch ein kleiner quantitativer Schritt.
Zwar ist dies zugegeben ein sehr extremes Szenario, doch hilft es uns dabei, noch einmal über die gegenübergestellten Modelle des Umgangs mit Daten – dem liberalen westlichen und dem totalitären chinesischen – zu reflektieren. Während zunächst das liberale Modell als moralisch überlegen scheint, enthüllt sich nun, dass beide Modelle prinzipiell totalitär sind: Während in China die KPC alles über seine Bevölkerung weiß, kennt im Westen Mark Zuckerberg alle Vorlieben seiner Benutzer. Während die KPC die Regeleinhaltung durch Datenerhebung- und Auswertung kontrolliert, sind es im Westen die auf personenbezogenen Daten basierenden wirtschaftliche Anreize, die das Verhalten kontrollieren. Während in China die Partei in alle Bereiche des Lebens eindringt, sind es im Westen Google und WhatsApp, die unseren Alltag strukturieren, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Während Xi-Jinping nahezu uneingeschränkte Macht hat, kann ein demokratisch nicht legitimierter Bill Gates wie kaum ein anderer Einfluss auf internationale Politik ausüben. Während systemtreue Chinesen mithilfe des Social-Credit-Systems ein Urteil über ihre Mitmenschen fällen können, sind es im Westen die Likes und Kommentare in den Social-Media-Plattformen, welche den sozialen Status preisgeben und anhand derer systemtreue Konsumenten ihren Wert beziehen. In einem Wort, während in der Volksrepublik big brother is watching you gilt, heißt es in der liberalen Demokratie big brothers are watching you.
Dass sich die beiden Modelle im Bezug auf Daten nur oberflächlich unterscheiden, zeigen beim letzten Zweifel schließlich die Reaktionen der westlichen liberalen Staaten (oder ihrer Geheimdienste), wenn es hart auf hart kommt: So etwa bei einem Terror- oder Spionageverdacht, bei äußeren Gefahren und nicht zuletzt bei pandemischen Gefahren wie zu Zeiten der Corona-Krise sind die liberalen Prinzipien oder Datenschutzverordnungen schnell vergessen und werden ganz im Sinne des chinesischen Modells zugunsten des nationalen Sicherheitsinteresses eingeschränkt. Der einzige Unterschied zwischen dem Westen und China besteht nur noch darin, dass im Liberalismus der Missbrauch von Daten – nicht zuletzt durch die Flut von Produkten- und Dienstleistungen – in einem schöneren Gewand erscheint und somit schwerer erkennbar ist als in einem offen totalitären System wie in der VR China. Die Politik im Westen befördert diesen Schleier, indem sie kleine Änderungen wie die DSGVO erlassen und somit den Anschein erwecken, zumindest um den Schutz der Privatsphäre bemüht zu sein, während aber an der Marktmacht der Big-Player und deren Umgang mit persönlichen Daten de facto kaum gerüttelt wird. Die logische Konsequenz ist das typisch-westlich arrogante Gespött über die Verletzung der Privatsphäre in China, während die Kontrolle durch Big Data im Westen verleugnet wird, weil man sich ja Amazons Alexa „freiwillig“ ins Wohnzimmer geholt habe.
Gibt es keine Alternative?
Es steht nach dieser kritischen Analyse also schlecht um die Zukunft der Daten und mancherlei Leser möchte sich denken, dass dies eine maßlos-überzogene, schwarzmalerisch-pessimistische Analyse ist. Doch man darf die Zukunft der „Daten“ nicht als isolierte Variable in ihrer speziellen Einzelwissenschaft, der Informationstechnologie oder ganz im Sinne ihres Aufschwungs neuerdings in Data Science betrachten, sondern in ihrer gesamtheitlichen Erscheinung und den Wechselwirkungen mit anderen Subsystemen. Es sind nicht Wissenschaftler, Data Scientists und Informationstechnologien, oder deren Ideen, die über die Zukunft der Daten entscheiden, sondern es sind wirtschaftliche und politische Prozesse und Interessen, welche die Zukunft in der Hand haben – eben jene Interessen, bei denen die Macht sitzt: in Multinationalen Konzernen und Regierungen. All diese Prozesse, die sich um Daten kreisen und die ich beschrieben habe, sind schon längst im Gange und stehen erst am Anfang ihrer Entwicklung.
Wenn das unendliche Streben nach Marktmacht oder politischer Macht weiterhin im Vordergrund stehen, dann kann sich die Zukunft der Daten nur zwischen einer der beiden vorgeschlagenen Modelle entwickeln und wird dank des Fortschrittes extremere Formen annehmen. Denn feststeht, dass es immer mehr Daten werden, deren Umgang effizienter wird, während der individuelle Mensch sich durch die Digitalisierung und der Daten-Matrix zunehmend entfremdet. Eine solche Zukunft kann nur durch die Abkehr von der Maxime größer, schneller, effizienter, verhindert werden – ansonsten droht die Matrix oder der Totalitarismus, die Wunschmaschine oder Minority Report.
Im Bezug auf die EU liegt es nahe, dass diese in Zukunft beide Modelle in sich vereinen wird, das heißt, einerseits wie bisher eine Interessensvertretung für multinationale Konzerne zu sein und diese unbescholten mit persönlichen Daten spielen zu lassen, andererseits den eigenen staatlichen Machtapparat auszubauen und den Datenschutz zugunsten Neuerungen wie eines Europäischen Impfpasses und den üblichen, oben zahlreich benannten Vorwänden einzuschränken. Im schlimmsten Fall ist die Konsequenz ein korporatistisches, neo-feudales Konglomerat zwischen den größten IT-Konzernen und den EU-Institutionen, die sich beim Umgang mit Daten gegenseitig unter die Arme greifen.
Vielleicht war die Freizügigkeit der Zeit nach dem Kalten Krieg sogar nur eine kurze historische Episode, von der wir uns schon bald verabschieden werden müssen, weil Big Data in Verbindung mit unseren politischen und sozio-ökonomischen Maximen zunehmend eine Eigendynamik entwickeln wird, an deren Ende der digitalisierte, gläserne Mensch steht. Um die demokratische Öffentlichkeit, Empörung und Teilnahme als realistische Rettung für eine solche Dystopie zu begreifen, fehlt mir leider ein Stück Naivität.
Allerdings mangelt es mir trotz meiner fehlenden Naivität nicht am Idealismus, eine solche Rettung vor dieser Dystopie dennoch anzustreben und voranzutreiben. Denn wenn wir den Glauben an den menschlichen Willen und seine Kraft zur positiven Veränderung verlieren, dann haben wir unsere Freiheit schon längst verloren. Bei dem ganzen Pessimismus um die Zukunft des Menschen im Zeitalter von Big Data, haben wir ganz vergessen, welchem Zweck Daten wirklich dienen bzw. dienen sollten: Wir brauchen Daten, um die Wahrheit zu erfahren und darin leisten sie uns treuen Dienst. Nicht die Politik oder die Wirtschaft, sondern die Wissenschaft und die Philosophie sollten die primären Bereiche sein, die auf Big Data zurückgreifen, um Wahrheiten und Fortschritt zu ermöglichen, der tatsächlich dem Menschen und nicht wirtschaftlichen Einzelinteressen oder politischen Machtinteressen dienen. Leider werden in unserer Gesellschaft Mittel und Zweck fast immer miteinander verwechselt – Geld, Öl, Daten, Macht, Effizienz, Profit, Fortschritt – all dies sind nur Mittel, die sich mit der Maxime des Fortschritts und unendlichen Wachstums zum Zweck verwandelt haben, an deren Ende aber kein echter, menschlicher Zweck mehr steht, sondern ein infiniter Regress von Zwecksetzungen, wobei die Daten einen dekadenten Wohlstand ermöglichen, der mit der Entfremdung des Menschen und der Sinn- und Orientierungslosigkeit des individuellen Lebens einhergeht, bei dem die kurzfristige Lustbefriedigung jegliche langfristige Lebensplanung oder Wertvorstellungen aussticht und schließlich im Gehirn im Tank endet.
Die Lösung des Problems ist also immanent und muss darin liegen, die Waffe zur Ermöglichung dieser Dystopien – die Daten – gegen sie selbst einzusetzen, um die Dystopien zu verhindern. In einem Zeitalter, in dem es möglich ist, dass Fluten von Zettabytes usw. in Sekundenschnelle über den gesamten Globus zu verteilen und durch das Internet jedermann zugänglich zu machen, muss es auch möglich sein, Wege zu finden, einen menschenfreundlichen Umgang mit Daten zu hegen, der den Menschen und seine persönlichen Eigenschaften nicht als Mittel, zur Profit- oder Machtmaximierung, sondern als einen Selbstzweck begreift. Gesucht ist ein Umgang mit Daten, der den Menschen nicht unterjocht, sondern ihn stattdessen zum Herrscher über die Daten macht. Wir können unsere Technologien und die Flut an Daten nutzen, um einen solchen Umgang zu finden.
Wir müssen also als Wissenschaftler, Philosophen, und als ehrliche und aufrichtige Menschen versuchen, gemeinsam eine Lösung für das Problem des Umgangs mit Daten zu finden, um 1984 genauso wie die Matrix zu verhindern. Wir müssen denken, diskutieren, überprüfen, beobachten und experimentieren und dürfen uns auch nicht davor fürchten, zu fühlen – schließlich sind wir (noch) keine Roboter.

Simon Enenkel ist Masterstudent der Politikwissenschaft und leidenschaftlicher Autor. Nach Praktika in einer Nichtregierungsorganisation und einer Lokalzeitung, studierte er den Bachelorstudiengang Philosophie, Politik und Ökonomie. Zurzeit betreut er mehrere Social-Media-Profile und arbeitet selbständig an Videos und Essays, die im Schnittpunkt der drei genannten Disziplinen angesiedelt sind. Dabei nimmt er eine ganzheitliche und vor allem kritische Perspektive auf gesellschaftlich relevante Themen und Entwicklungen unserer Zeit ein. Sein Hauptaugenmerk gilt dabei der Politischen Theorie und Ideengeschichte sowie der Politischen Ökonomie.